Katja Hoffmann Wildner

Ein Eichenblatt an einer Palme


Wie viele Nachfahren habe ich in Brasilien? Wie ist Richard Flöter nach Brasilien gekommen? Wie beeinflusst das Auswandern unsere Vorstellungskraft?

Auf drei Ebenen befasse ich mich mit Auswanderung (bzw. Wandeln) im weitesten Sinne.

1. Die persönliche Suche – Auf den
Spuren von Richard Flöter

2. Die historische Ebene – Erweiterung
meines Verständnisses über jene Zeit
der Auswanderungswelle vor dem
ersten Weltkrieg - Das „Alte Europa”

3. Kulturelle Beobachtung –
Vilém Flussers phänomenologischer
Denkansatz zur kulturellen
Entwicklung in Brasilien

Mein künstlerisches Betätigungsfeld scheint grundlegend betrachtet immer diese drei Ebenen zu verbinden. So hat auch dieses Projekt einen relevanten Ursprung:
Vier Jahre lang zog es mich nach Schlesien, Ostpolen und, bis jetzt, in den westlichen Teil der Ukraine, um mir von Kultur, Geschichte und Landschaft einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Eigentlich alle meine Vorfahren, die mir bekannt sind, stammen aus Schlesien.
Viele Deutsche, die ursprünglich aus Schlesien kommen, leben heute grenznah an Polen.
Und die Polen, die ursprünglich aus der heutigen Westukraine stammen, leben heute im polnischen Schlesien, grenznah Deutschlands. Es ist, als hätte das Land Polen einen Schritt nach links gemacht und sich dabei von innen nach außen gedreht.

Nach diesen vier Reisejahren in Polen spreche ich etwas polnisch und habe einen kleinen Überblick über die Geschichte Polens gewonnen, speziell über das 18., 19. und vor allem das 20. Jahrhundert.
Auf einem Spaziergang durch den Stadtpark Breslaus fand ich ein Eichenblatt und hob es auf. In diesem Park steht auch eine Büste Joseph von Eichendorffs.
Ich kombinierte die Umrisse des Blattes mit seinem Namen Eichendorff und der Tatsache, dass die Umrisse Schlesiens seit Jahrhunderten mit einem Eichenblatt verglichen werden. Dieser Vergleich ist für mich ein sehr poetisches Motiv. Auch der Gedanke an die romantische Strömung in Deutschlands bringt mir einen weiteren gedanklichen Gewinn ein.

Der Onkel meiner Großmutter, Richard Flöter, lebte bis kurz vor dem ersten Weltkrieg in Wiersebenne, nördlich von Breslau. Seine Mutter heiratete erst spät nach seiner Geburt und bekam als Ehe- und Hausfrau zwei weitere Kinder.

Schlesien heute, bearbeitete Karte

Die Stammbäume dieser zwei Nachgeborenen konnten erstellt werden. Die Geschichte Richards blieb, auch aus Mangel an Informationen unbekannt.
Ich fand einige Fotografien mit wenigen Hinweisen, z.B. dass er mit seiner Frau Rosa und seiner kleinen Tochter Agnes in den Bundesstaat Sao Paulo auswanderte. Dort auf dem Land bewirtschaftete er eine Baumwollplantage. Er bekam drei Söhne.
Agnes beging mit circa 25 Jahren Suizid. Ihrer Brüder müssten zu diesem Zeitpunkt im Alter zwischen zwei und zehn Jahren gewesen sein.
Mein „Protagonist” Richard Flöter brachte mich nun auf diese Weise thematisch von Polen nach Brasilien. Von da aus begann ich mir vorzustellen, wie Europa und speziell Deutschland vor den beiden Weltkriegen mental strukturiert waren.
Wie war das „alte europäische Denken” jener Zeit? Und parallel gedacht, was ist „tropisches Denken” (nach Vilém Flusser) in Brasilien?
Flusser beschreibt in den sechziger Jahren unter phänomenologischer Betrachtung seine Empfindungen zur kulturellen Entwicklung Brasiliens. Diese Typoskripten wurden in Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen von seiner Frau Edith Flusser und Stefan Bollmann im gleichnamigen Verlag erst 1994 herausgegeben.
Der geistige Transport kunstgeschichtlicher Auffassungen von Europa nach Brasilien sei weltweit einzigartig. Ebenso das Verständnis einer Toleranz für Mischungen verschiedenster religiösen, nationalen und politischen Kreuzungen.
Als ich dieses Buch las, entstand in mir ein Bild von Brasilien das einer Konserve eines anders verstanden Europas gleicht. Der 1920 in Prag geborene Kommunikationsphilosoph floh 1939 vor den Nazis nach Brasilien, wo er ab 1962 einen Lehrstuhl für Kommunikationstheorie in Sao Paulo inne hatte.
Ähnlich in der Herangehensweise wie er, versuche auch ich mich, allerdings auf bildnerischer Ebene „phänomenologisch” darauf einzulassen. Ich empfinde meine Arbeiten als ein Auswandern oder ein Wandeln im mentalen Sinne. Mich interessieren dabei stark meine Vorstellungskraft und meine Intuition.Ich versuche dabei Hermetisches (Historisches) und Freies (Intuitives) nebeneinanderzustellen, um einen weiteren Aspekt auf das Phänomen Auswanderung (im näheren, wie auch weiteren Sinn) zu gewinnen. Ich biete mir selbst einen Versuch durch die Kombination gesellschaftlicher Zeichen (Symbole, Heraldik, allgemeine Klischees) und persönlicher Zeichen (meine Zeichnungen als Index, Hinweis) meine Wahrnehmung zu erweitern.
Zum Beispiel ist das Eichenblatt für mich ein Vertreter für das „alte Europa” (Kaiserzeit) als Spiegelbild zur Kolonialzeit in Brasilien.

Familienaufnahme 1964,
oberste Reihe, 3. von links
Richard Flöter

Das Portrait von Joseph von Eichendorff (Saudade oder die Suche der Romantiker, 2011) verweist auf die Romantik, als einen Entwurf oder dritte Alternative zur Orthodoxie Russlands und Ablehnung einer industriellen Gesellschaft in Deutschland dieser Zeit (siehe Flusser). Sie führt mich außerdem in das Reich der Poesie. Das Eichenblatt steht auch für bestimmte Traditionen, die mir eng verbunden mit Europa erscheinen, bevor der zweite Weltkrieg uns einen wichtigen geistigen Einfluss herausoperierte (die jüdische Gesellschaft). Und es steht für Kontrolle und fixiertes Denken, aber auch Intuition.
Die Palme hingegen vertritt Brasilien mit der Assoziation zu Hitze, Fleischlichkeit, Instinktivität, unkontrollierbare Lebendigkeit, Gefahr, Imagination, Wahn und Toleranz.
Das Herantasten auf bildnerischem Wege möchte ich unbedingt weiter ausdehnen, weil ich mein Gefühl zu diesen Begriffen noch nicht begründen kann. Dazu möchte ich selbst erfahren, wie das Reisen und Anwesendsein in Brasilien und Schlesien meine Imagination verändert.
Ich wünschte mir außerdem, die Nachfahren Richard Flöters zu finden.

o.T., 2011
Bleistift, Buntstift, Klarlack auf Papier
59,4 x 84,1 cm


Familienaufnahmen
links: Rosa Flöter

rechts: Richard Flöter
um 1935

Teilansichten aus: Wald der Heraldik, 2011


o.T. 2011
Lack auf Papier
150 x 200 cm

Vogel, 2009
Moosgummi, Stoff, Heftklammern
90 x 148 cm


Familienaufnahme
Richard Flöter vor dem Unabhängigkeitsmuseum
der Paulister in Sao Paulo um 1935



Saudade oder von der Suche der Romantiker, 2011
Lack auf Papier, 200 x 150 cm
„Der lateinamerikanische Intellektuelle sieht das romantische Deutschland als ein Feld, in dem sich Kräfte aus West und Ost über­decken und schneiden. Tatsächlich ziehen ja über Deutschland ganz sichtbar französische und russische Truppen. Und er sieht in der Romantik die kolossale Willensanstrengung eines unterdrückten Volkes, diesen Kräften gegenüber nicht nur eine eigene Indentität zu behaupten, sondern der ganzen Menschheit eine dritte Alternative zu bieten. Und diese Alternative besteht, um es kurz zu sagen, im Ablehnen der industriellen Zivilisation des Westens und der massifizierenden Orthodoxie des Ostens und im Errichten einer verin­ner­lichten, schöpferischen und aus der Phantasie schöpfenden Kultur des wahren, sich selbst bewußten Menschen. Also sieht er die deutsche Romantik als Versuch, angesichts einer feindlichen Wirklichkeit für eine bessere zu kämpfen. Allerdings als einen geschei­terten Versuch, also als betrogene Hoffnung. Das ist ein Mißverständniss; denn die Romantik ist nicht aus Hoffnung, sondern aus Verzweiflung geboren, und sie ist ihrer Einstellung nicht Engagement, sondern Verfremdung.”

(aus: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen - Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung; Hrsg. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bollmann Verlag, 1994)


Ohne Titel, 2011
Fineliner, Buntstift auf Papier
42 x 59,4 cm

Ohne Titel, 2009
Fineliner, Lack, Buntstift auf Papier
42 x 59,4 cm

Schlesien, 2010
Tusche, Lack auf Papier
100 x 150 cm

Richard Flöter, 2011
Tusche und Lack auf Papier
100 x 150cm

Schlesien, 2010
Kunststoff, Heftnadeln
60 x 85 x 1,5 cm

Tropisch denken – Für Vílem Flusser, 2011
Tusche auf Papier
29,5 x 47 cm


Wald der Heraldik, 2011
Kunstmaterial, Moosgummi, Papier,
Kupferpapier, Holz
jeweils 100 x 28 cm



o.T., 2010
Tusche auf Papier
59,4 x 84,1 cm



Sonntagsschatten, 2009
Fineliner und Lack auf Papier
42 x 59,4 cm

o. T. 2010
Fineliner, Lack, Aquarellfarbe auf Papier
42 x 59,4 cm

Sonntagsschreck, 2009
Filzstift, Fineliner, Lackmaler, Kupferpapier auf Papier
42 x 59,4 cm

o.T. 2011
Filzstift, Lackmaler auf Papier
42 x 59,4 cm


o.T. 2011
Tusche, Lackmaler auf Papier
42 x 59,4 cm
„Das Aroma des Ungeschichtlichen und des Unbewußten, das dem Einwanderer süß berauschend entgegenschlägt, hat etwas Kindliches und Paradiesisches- Unverdorbenes, um es romantisch zu sagen. Es ist das Aroma von Hippies und LSD. Allerdings hat es sich im Lauf der letzten Generation scheinbar sehr verflüchtigt, und an der Oberfläche scheint es, als ob der `in prächtiger Wiege schlafende Gigant´ tatsächlich erwachen wollte. Aber in Wirklichkeit sind die Prozesse an der wachen Oberfläche eben doch nur epidermische Phänomene, deren hauptsächliche Folge eine Verhäßlichung der Erscheinung des Landes ist, aber nicht eine Veränderung seines Wesens. Denn weiterhin gilt für den Brasilianer, daß er dem Unbewußten, Emotiven und Intuitiven weit größeren Spielraum gewährt und daß er gegen das wache Bewußtsein ein instinktives Mißtrauen bewahrt, als sei er von der Seichtheit des Bewußtseins überzeugt. Der Brasilianer ist ein Mensch des `genialen Einfalls´ (`palpite genial´): der Mensch der Intuition, nicht der Planung.”

(aus: Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen - Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung; Hrsg. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Bollmann Verlag, 1994)


o.T. 2010
Tusche, Lack auf Papier
59,4 x 84,1 cm
Intuition - Romantik
Schlesien - Tropen

Diese Begriffe stellen meinen Leitfaden dar, die ich gern unbegründet wirken lassen möchte. Mein Schwerpunkt liegt sekundär auf politischen und sozialen Fakten. Sie sollen mehr jene Fragen verbinden, die ich grundsätzlich über Imagination habe und sich in erster Linie mit Kunst als Zeichen, Index und Handlung beschäftigt.

Wann und wie dieses Projekt sein Finale findet, ist noch nicht absehbar, weil ich meine Vermutungen noch nicht konkret formulieren kann. Ich befinde mich sozusagen in einem „forschenden” Zustand. Meine Bilder kommen meinen erahnenden Gedanken am nächsten und diese möchte ich kommunizieren und ausstellen.

                       

Visuelle Studien:

http://www.katja-hoffmann-wildner.de/

Katja Hoffmann Wildner

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Katja Hoffmann Wildner, bildende Künstlerin